Psychisches Leid ist tabuisiert und wird als Stigma empfunden. Wer vor Erschöpfung nicht mehr ins Büro konnte, hat lieber gesagt, der Haxn sei verstaucht, als Depressionen zu nennen. Einige Führungskräfte betrachten – auch körperlich manifeste – psychische Erschöpfungszustände noch immer als Schwäche. Manche wiederum führen sie als Tapferkeitsmedaille auf dem Schlachtfeld vermeintlicher Leistungsfähigkeit vor. Grundsätzlich aber gilt das Urteil: Wer es nicht mehr packt, ist selber schuld. Dazu hat die ganze Selbstoptimierungsindustrie ihr gutes Schäufelchen beigetragen.
Derselbe Vorwurf geht auch an die Glücksindustrie, die suggeriert, wer es nicht schafft, happy zu sein, hat dafür nicht hart genug gearbeitet, nicht genügend viele Produkte gekauft oder sich nicht genügend viele Lifehacks reingezogen. Und sich nicht ordentlich genug zusammengerissen.
Das war schon vor Corona Unsinn. Jetzt, nach sechs Monaten in der Pandemie, muss mit diesen falschen Urteilen wirklich Schluss sein. Menschen sind in Isolation und Einsamkeit verzweifelt. Es muss nicht gleich das neue Schlagwort vom „sozialen Tod“ sein, der mit der nahezu völligen Unterbindung von Sozialkontakten und deren seelischen Folgen beschrieben wird. Es reicht, dass man und frau es nicht mehr isoliert aushält mit andauerndem Abstand. Dass alltägliche Berührung fehlt, dass nette Worte am Gang oder einfach eine Plauderei seit Monaten nicht mehr zu kriegen sind. Allein in der Wohnung, im Homeoffice, in der Arbeitslosigkeit, in der Quarantäne. Allein mit unbestimmten Ängsten und konkreter Furcht um die Familie, den Job, die Zukunft.
Wut und Aggression
Dass erzwungener Abstand, von Grund auf unmenschliches Verhalten für soziale Wesen, krank macht, ist durch Sars- und Mers-Epidemien recht gut beforscht. Posttraumatische Belastungsstörungen treten gehäuft auf, Wut und Aggression bahnen sich ihren Weg, die Frustrationstoleranz sinkt auf ein Minimum. Die ganze Palette depressiver Störungen schlägt zu. Die Donau-Universität hat vor Monaten bereits von einer Vervielfachung dieser Symptomatiken gesprochen, und jede und jeder merkt es sowieso: Es geht sehr vielen Menschen wirklich nicht gut. Der gemeinsame Nenner, egal wie die Lebenssituation gerade aussieht, ist eine große Überforderung. Mitarbeiter von Helplines bestätigen das.
Es wird uns die kommenden Jahre beschäftigen, wie wir psychisch beieinander sind. Nach dem Fokus auf die körperliche Gesundheit während Corona muss jetzt die psychische Gesundheit in den Mittelpunkt rücken. Mit allen Anstrengungen.
Wenn wir Unternehmen retten wollen und können, dann können wir auch Psychotherapie auf Krankenschein wahr werden lassen. Wir können Arbeitsgesundheit noch stärker psychisch betrachten, und jede und jeder von uns kann dazu beitragen, dass es anderen ein bisschen leichter wird: Freundliche Worte, ein Lächeln, ein „Danke“ mehr, einmal jemanden vorlassen und einen Fehler übersehen. Das ist auch notwendige Zukunftsgestaltung. (Karin Bauer, Standard 3.10.2020)